«Das Bewusstsein wächst – langsam, aber spürbar»

    Menschen im Autismus-Spektrum begegnen im Alltag häufig Barrieren – nicht immer sichtbaren, aber sehr realen. Autismus ist oft unsichtbar, doch genau das führt zu Missverständnissen, Vorurteilen und mangelnder Unterstützung. autismus schweiz setzt sich aktiv dafür ein, das zu ändern. Gerade erst wurde das Sunflower Lanyard mit der SBB als Partner lanciert. Geschäftsleiterin Regula Buehler gibt einen Überblick und stellt die Beratungsstelle hier vor.

    (Bild: pixabay) Reizüberflutung ist besonders belastend: Das Spektrum ist so vielfältig wie die Menschen selbst und auch der Unterstützungsbedarf ist sehr unterschiedlich.

    Ein bis drei Prozent der Schweizer Bevölkerung ist von ASS – einer Autismus-Spektrum-Störung – betroffen. Sie ist allerdings nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Begegnen wir im Alltag in der Schweiz oft betroffenen Menschen?
    Regula Buehler: Ja – weltweit sind rund ein bis drei Prozent der Bevölkerung im Autismus-Spektrum (AS). Leider erhebt die Schweiz keine genauen Zahlen. Vielen Personen im AS sieht man ihre Herausforderungen im Alltag nicht an. Ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder im ÖV: Wir begegnen Betroffenen immer wieder, oft ohne es zu merken.

    Was versteht man unter einer Autismus-Spektrum-Störung? Können Sie das kurz erklären?
    ASS ist gemäss der Diagnose eine neurologische Entwicklungsdiversität. Sie beeinflusst, lebenslang wie Menschen wahrnehmen, denken und kommunizieren. Unter anderem in der Kommunikation und sozialen Interaktion mit anderen Menschen tauchen oft grosse Schwierigkeiten auf. Reizüberflutung ist für Menschen im Autismus-Spektrum besonders belastend, weil ihr Gehirn Reize oft ungefiltert und intensiv wahrnimmt. Dies führt häufig zu Überforderung, Stress und schneller Erschöpfung. Das Spektrum ist so vielfältig wie die Menschen selbst und auch der Unterstützungsbedarf ist sehr unterschiedlich.

    autismus schweiz wurde vor bald 50 Jahren als Elternverein gegründet. Heute ist es die grösste Non-Profit-Organisation zum Thema Autismus in der Schweiz. Was sind bis jetzt die wichtigsten Meilensteine in der Geschichte der Organisation?
    1975 als Elternverein gegründet sind wir heute eine nationale Fachorganisation. Wichtige Schritte waren der Aufbau der Beratungsstelle, unsere professionellen Weiterbildungsangebote und unsere politischen Aktivitäten und die Sensibilisierungs-Arbeit – und 2025 die Einführung des Sunflower Lanyards als Partner der SBB.

    Was sind die wichtigsten Dienstleistungen von autismus schweiz?
    Unsere Fachpersonen beraten Betroffene, Angehörige und Fachpersonen, personalisiert und kostenlos, wir bieten Weiterbildungen an, organisieren autismusgerechte Veranstaltungen, erarbeiten Informationsmaterialien und setzen uns intensiv für mehr Verständnis und Wissen ein. Unser Ziel: ein selbstbestimmtes Leben für alle im Spektrum.

    Wie hat sich das Leben von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in den letzten Jahren verändert?
    Es gibt mehr Wissen und Akzeptanz – aber auch immer noch viele Barrieren. Menschen im Autismus-Spektrum zu verstehen und zu unterstützen ist immer noch ein wachsender Prozess. Digitale Tools, neue Bildungswege und Projekte wie das Sunflower Lanyard helfen ihnen, stressfreier zu leben.

    Ab dem 17. Juni 2025 führt die SBB – gemeinsam mit autismus schweiz und 14 weiteren Partnerorganisationen – als erstes Schweizer Verkehrsunternehmen das Sunflower Lanyard im Grossraum Zürich und Genf ein. Welche Idee steckt dahinter und was bedeutet dies für unsere Gesellschaft wie auch für die Betroffenen?
    Das Lanyard zeigt: «Ich habe eine unsichtbare Beeinträchtigung.» Es ermöglicht Rücksicht und Verständnis – ohne lange Erklärungen. Es ist ein sympathisches Zeichen, das Türen öffnet und Barrieren abbaut – für mehr Verständnis im Alltag.

    Menschen im Autismus-Spektrum stossen im Alltag oft auf unsichtbare Barrieren. Initiativen wie das Sunflower Lanyard fördern Verständnis und erleichtern die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

    Was braucht es, damit Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen können?
    Individuelle Unterstützung, passende Rahmenbedingungen und eine Gesellschaft, die Vielfalt als Stärke sieht. Mit Akzeptanz, Flexibilität und Vertrauen können Menschen im AS ihr Potenzial entfalten.

    Wie geht die Gesellschaft mit Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung um?
    Noch immer begegnet die Gesellschaft Menschen im Autismus-Spektrum häufig mit Unsicherheit, Unwissen oder Vorurteilen. Doch das Bewusstsein wächst – langsam, aber spürbar. Initiativen wie das Sunflower Lanyard oder inklusive Projekte im Alltag machen sichtbar, was lange unsichtbar war. Begegnung, Aufklärung und echte Teilhabe sind der Schlüssel zu mehr Verständnis – und genau daran arbeiten wir jeden Tag.

    Was bedeutet eine Autismus-Spektrum-Störung für die Angehörigen der Betroffenen?
    Das Leben mit einer Person im AS jeden Alters bewegt sich oft zwischen intensiver Fürsorge, organisatorischer Dauerleistung und einem oft kräfteraubenden Alltag. Gleichzeitig eröffnet es neue Perspektiven und erweitert den Horizont auf berührende Weise. Angehörige und ihr Umfeld brauchen Austausch, fundiertes Wissen und spürbare Entlastung – genau hier setzt unsere Arbeit an: unterstützend, verbindend und stärkend.

    Was sind wichtige Projekte von autismus schweiz?
    Wichtige Projekte sind zum Beispiel die Einführung von «Stillen Stunden» im Einzelhandel, Verbreitung des Sunflower Lanyards oder unser Nationaler Autismus Kongress – dies sind Beispiele von Projekten, die Autismus in der Gesellschaft sichtbar machen. In Kooperation mit Partnern wie zum Beispiel Pathé setzen wir uns für autismusgerechte Kinovorstellungen ein, um so kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Gleichzeitig engagieren wir uns für mehr Wissen und Verständnis in Politik, Schulen, Unternehmen und Freizeiteinrichtungen – denn nur mit einem informierten Umfeld können die Bedürfnisse von Menschen mit Autismus erkannt werden. Wir verfolgen dies, wo immer möglich, in Kooperation mit Menschen im Spektrum.

    Was wünschen Sie sich für autismus schweiz respektive für die Betroffenen für die Zukunft?
    Wir wünschen uns eine Schweiz, in der Anderssein nicht mehr erklärt werden muss – in der Menschen im Autismus-Spektrum selbstverständlich dazugehören: in der Schule, im Beruf, in der Freizeit und in der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern als Bereicherung versteht. Für autismus schweiz wünschen wir uns, weiterhin eine starke, anerkannte Stimme zu sein – eine Organisation, die Brücken baut, Barrieren abbaut und sich mit Kompetenz und Herz für alle Menschen im Spektrum einsetzt.

    Interview: Corinne Remund


    Dank Spenden kann die Beratungsstelle Betroffene und ihre Angehörigen professionell beraten und in herausfordernden Situationen Hilfe und Unterstützung leisten.

    www.autismus.ch

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